Unser Wald hat ein Problem. Zeitungen, Funk und Fernsehen berichten uns regelmäßig von häufiger und heftiger gewordenen Sturmschäden und Waldbränden, von Trockenheitsschäden an Waldbäumen und von der massenhaften Vermehrung der Borkenkäfer, die ganze Baumbestände dahinraffen. Für uns augenfällig wird das Problem, wenn wir abgestorbene Bäume in großer Zahl sehen, wie dies derzeit am stärksten in Fichtenbeständen der Fall ist. Auch andere Baumarten zeigen seit einigen Jahren zusehends Krankheitszeichen: Die Esche ist so massiv vom Eschentriebsterben betroffen, dass sie bereits großräumig abstirbt. Ganze Waldstücke von Rotbuchen sterben regional innerhalb weniger Jahre aufgrund von Wassermangel ab, und auch einige weitere Baumarten zeigen neue Krankheiten durch Parasiten, Bakterien und Pilze, die bisher kein Problem waren.
Dass unser Wald leidet, wissen wir alle. Genau genommen, stimmt das ja nicht ganz, denn es ist nicht UNSER Wald, wenn wir uns klarmachen, dass der Homo Sapiens auch nur eine der vielen Arten auf der Welt ist, ebenso zu Gast auf dem Planeten wie andere Spezies auch. Wir Menschen haben uns des Waldes, der hier vorkommt, schon lange bemächtigt und nutzen die Flächen, auf denen Bäume wachsen, mit großer Selbstverständlichkeit für unsere Zwecke. Unser Bedarf an verwertbarem Holz nimmt stetig zu. Gleichzeitig genießen wir gerne den Wald, seinen Anblick im Vorbeifahren und seine Luft beim Wandern. Wenn der Wald nun leidet, haben auch wir ein Problem. Wir registrieren das Problem zuerst dort, wo es uns wehtut, etwa anhand der Holzpreise oder anhand des unschönen Anblicks von toten Bäumen oder von Waldflächen nach Rodung oder Sturmwurf. Aber auch unser Wissen um weitere wichtige Funktionen des Waldes, vor allem als Lunge des Planeten oder als Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten, ermahnt uns, das Problem ernst zu nehmen. Wir brauchen den Wald, wir brauchen einen gesunden Wald, und wir brauchen einen Wald voller Leben.
Die heute bestehenden Wälder sind in einer Zeit entstanden, in der noch andere klimatische Verhältnisse geherrscht haben als heute. Bäume und das ganze Ökosystem "Wald" sind stark abhängig von den Witterungsverhältnissen. In der Tat sind zunehmende Temperaturen, häufigere Trockenheit und häufigere Stürme heute die Hauptursachen für die Hinfälligkeit der Wälder. Parasiten wie Borkenkäfer oder bestimmte baumschädigende Pilzarten gab es schon sehr lange, aber erst jetzt, aufgrund der veränderten Klimaverhältnisse, werden sie zum großflächigen Problem. Der leidende Wald der Gegenwart hat eine Geschichte, die seit 200 Jahren ebenso von Abholzung zur Gewinnung von Nutzholz und Ackerland geprägt ist wie durch die Aufforstung mit schnell wachsenden, ertragreichen Baumarten. Baumarten wie die Fichte, die in unserer Region nicht ursprünglich vorkam, sondern einst zugunsten hoher Holzerträge hier in großem Umfang angepflanzt wurde, leidet zunehmend an Trockenheit und hat dem Befall durch Borkenkäfer immer weniger entgegenzusetzen. Als Flachwurzlerin wird sie auch immer öfter Opfer heftiger Stürme. Was einst notwendig und hilfreich war, erweist sich heute unter den veränderten Klimaverhältnissen als immer anfälliger. Der Anbau einer standortfremden Baumart, obwohl bisher lange toleriert, rächt sich jetzt. Auch die ertragsorientierte Monokultur rächt sich, indem sie Schädlingen eine Massenvermehrung ermöglicht. Aber auch ursprünglich vorkommende Baumarten erweisen sich im Zuge des Klimawandels inzwischen als anfällig, örtlich auch als hinfällig.
Während wir der Ausbreitung der Borkenkäfer in den riesigen Fichtenbeständen unserer Region durch immer größere Rodungsaktionen, durch Säuberung des Waldes oder durch Pestizide Einhalt zu gebieten versuchen, ist dennoch klar, dass ohne die Behebung der Ursachen der bisherige Waldbestand so nicht bleiben kann und nicht bleiben wird. Das sich verändernde Klima wird für einige der bestehenden Baumarten immer ungünstiger; dagegen kann es das Wachstum von Baumarten, die bislang regional eine geringere Rolle gespielt haben, begünstigen. Vielleicht können auch die bestehenden Baumarten eine gewisse Anpassung leisten, aber wir sind gut beraten, uns umzusehen, welche Bäume heute, aber auch in einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten noch, gute Chancen haben, gesund zu bleiben.
Wer bislang wirtschaftlich von Wald abhängig war, hat unter Umständen bereits beträchtliche wirtschaftliche Nachteile durch "den Käfer" oder "den Sturm" erlitten. Aus Sicht von Waldnutzer(inne)n liegt es nahe, Wälder so umzubauen, dass sie in der Zukunft einmal gute Holzernte versprechen. Wir werden so umgebaute Wälder sicher brauchen. Wir sollten aber aus der Vergangenheit auch lernen, dass ein (vermeintliches) wirtschaftliches Optimum nicht das Hauptziel sein kann, das wir anstreben. Monokulturen im Wald schlagen derzeit schon böse auf uns zurück, wirtschaftlich wie ökologisch. Für die ökonomische Optimierung der Vergangenheit haben wir inzwischen begonnen, jetzt den Preis zu zahlen. Vermutlich ist langfristig nur ein ökologisch guter Wald auch ein ökonomisch guter.
Die Lebensbedingungen, denen Wälder künftig gewachsen sein müssen, um vital zu bleiben, zeichnen sich ab: Höhere durchschnittliche Temperaturen, weniger Niederschlag und längere Trockenheitsperioden, stärkere Stürme. Die Bäume der Zukunft müssen mit höheren Durchschnittstemperaturen zurechtkommen, längere Trockenheitsphasen gut überstehen und sturmfest sein. Es gibt heimische Baumarten, die dies versprechen, etwa die Baumhasel oder die Hainbuche, und es gibt Baumarten auswärtigen Ursprungs wie beispielsweise die Douglasie oder die Roteiche, die als Kandidaten in Frage kommen. Anstelle von Monokulturen, welcher Baumart auch immer, werden die Wälder der Zukunft Mischwälder sein, und vermutlich werden Laubbaumarten diesen Mischwald dominieren. Auch die Wälder der Zukunft werden uns Holz liefern, aber eine reine Ertragsmaximierung darf uns nicht weiterhin den Weg weisen.
Die Stiftung Natur Zuerst betreibt Waldumbau nach eigenen, ökologischen Gesichtspunkten und lässt der Natur dabei den Vorrang. Die biologischen und ökologischen Funktionen des Waldes, nicht die menschliche Nutzung, sind der Maßstab dafür, wie der Wald umgebaut wird.
Wie sieht der Wald unserer Ziele aus? Der Baumbestand soll gesund und möglichst resistent gegen den Klimawandel sein. Und es soll viel Leben und eine Artenvielfalt in ihm geben, viel gesundes und unterschiedliches Leben. Die wichtigsten Gesichtspunkte für die Gestaltung sind:
- Strukturreichtum: Ein Wald begünstigt die biologische Vielfalt, wenn er reich an unterschiedlichen Strukturen ist. Je mehr unterschiedliche Lebensräume ein Wald beinhaltet, also je strukturreicher er ist, umso mehr Tier- und Pflanzenarten kann und wird er beherbergen und nähren. Struktur erhält der Wald schon durch Unregelmäßigkeiten im Gelände, vor allem aber durch Abwechslung im Baumbestand: unterschiedliche Baumarten, unterschiedlich alte Bäume, unterschiedliche Abstände sowie Waldränder und Lichtungen mit gemischtem Strauchbewuchs.
- Waldränder: Am Waldrand oder an einer Lichtung stellt sich ein anderes Leben ein als im Innern des Waldes. Ein Waldrand ist nicht einfach das Ende des Baumbestandes, sondern eine besondere Übergangszone, die bei entsprechender Gestaltung zu Lebensraum und Nahrungsquelle für viele Arten wird. Im Inneren des Waldes beherbergen alte Bäume andere Arten als junge, und ohnehin bieten unterschiedliche Baumarten auch ein unterschiedliches Angebot an Habitaten und Nahrung.
- Totholz: Das Angebot eines Baumes an Lebensraum und Nahrung für viele Arten endet auch nicht mit dem Absterben eines Baumes. Gerade auch totes Holz, noch stehend, schon liegend oder schon halb verrottet, ist wichtiger Lebensraum und dient ebenfalls der Artenvielfalt. Abgestorbene Bäume verbleiben daher, wenn möglich, im Wald.
- Mischung von Baumarten: Natürlich brauchen wir für einen gesunden Wald solche Baumarten, die auch künftig gute Bedingungen für gesundes Wachstum vorfinden. Bei der Auswahl unserer Bäume der Zukunft müssen wir angesichts des sich verändernden Klimas zumindest einige Jahrzehnte vorausdenken. Die Stiftung berücksichtigt die wissenschaftlichen Empfehlungen zur truppweisen Baumpflanzung und strebt dabei insgesamt einen strukturreichen, "bunten" Mischwald aus vielen Baumarten an.
- Abkehr von der Ertragsmaximierung: Die Verringerung des Holzertrags, die aus der extensiven Nutzung und dem Totholzkonzept fast zwangsläufig resultiert, wird in Kauf genommen; möglicherweise wird die Stiftung später auch einmal ganz auf Holznutzung verzichten. Großflächig und allgemein gedacht, kann der Minderertrag extensiv bewirtschafteten Waldes vor allem durch einen verringerten Holzbedarf ausgeglichen werden. Die Stiftung ruft dazu auf, der immer weiter steigenden Holznachfrage mit persönlichem Verzicht entgegenzutreten und beispielsweise nicht ständig neue Möbel oder Einwegprodukte aus Holz nachzufragen. Damit kann jede Person einen wichtigen Beitrag zu gesunden und artenreich belebten Wäldern leisten. Das vielfältige Leben im Wald hat es schon einmal gegeben, bevor wir es für unseren Nutzen und Wohlstand zurückgedrängt haben, und es soll wiederkommen.
Wie baut man einen Wald um, alte Bäume raus und neue Bäume rein? So ähnlich ist der Plan. Nur können wir den Baumbestand in einem Wald nicht einfach auswechseln wie den Motor eines Fahrzeugs. Es braucht viel mehr Zeit, und wir müssen vor allem den Gesetzen, denen das Wachstum der Bäume folgt, Rechnung tragen. Wenn wir einen Kahlschlag mit seinen schweren ökologischen Nachteilen vermeiden wollen, dann geht es nur schrittweise und mit einer langen Überlappung von Wald der Vergangenheit und Wald der Zukunft. In vielen Wäldern geben Käferbefall und Sturmereignisse bereits das Tempo vor: Bäume zeigen Befallserscheinungen, sterben ab, stürzen um. Wenn der Wald nicht mitten in einem großen Naturwald-Reservat liegt, versuchen wir durch Entfernen befallener oder frisch abgestorbener Bäume, die Ausbreitung der Borkenkäfer zu hemmen. Durch die Schadereignisse entstehen Lücken, vielfach auch Lichtungen, "Käferlöcher". Wo genügend Licht durch Lücken im Kronendach auf den Waldboden fällt, haben neue Bäume eine Chance. Ab einer bestimmten Lichtungsgröße, und etwas früher schon am Waldrand, können sukzessive neue Baumarten zum Beispiel in einen allmählich dünner werdenden Fichtenbestand eingebracht werden. Zu den Genügsamsten in puncto Licht gehören Rotbuche, Weißtanne und Eibe. Aber wir werden mit dieser Auswahl nicht an allen Standorten zufrieden sein, und die Eignung einer Baumart hängt nicht nur von den Lichtverhältnissen, sondern auch von der Bodenbeschaffenheit und dem örtlichen Klima der kommenden Jahrzehnte ab.
Der Waldumbau hat also bereits begonnen, während wir uns hier mit dem Thema beschäftigen. Die Natur selbst hat ihn eingeleitet und wir sind aufgerufen, die Wälder der Zukunft mitzugestalten. Wenn wir über das Tempo des Wandels, zu dem uns die wiederkehrenden Schadereignisse zwingen, hinausgehen wollen, dann entfernen wir immer wieder zusätzlich und gezielt Bäume und schaffen damit Platz und Licht für den kommenden Wald. Dabei ist das Tempo des Übergangs durch die biologischen und physikalischen Eigenschaften der Bestandsbäume begrenzt. Es braucht nicht nur persönlichen Einsatz und geeignetes Gerät, sondern auch Geduld und Augenmaß.
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